
Stilles Loslassen
6 Monate hatten wir nicht miteinander gesprochen.
Es war wie eine stille Übereinkunft. Kein Streit, keine Eskalation. Es passierte einfach so und die Monate zogen an mir vorüber. Das war nicht neu für mich. Ich kannte diesen Zustand. Also zog ich nicht mehr in den Kampf oder in irgendeine reumütige Position… ohne zu wissen, wofür ich eigentlich Reue zu empfinden hätte.
Weihnachten stand vor der Tür. Der 18. Geburtstag meines Sohnes. Eigentlich sollten Daten und Ereignisse keine Rolle spielen, wenn es um Gefühle, um Liebe, um Familie geht. Aber sie spielen eine Rolle. Man denkt öfter darüber nach und stellt sich mehr Fragen als sonst und inmitten diese Fragen platzte die Nachricht, dass mein Vater im Krankenhaus liegt.
Eine meiner größten Ängste trat also ein. Wie verhalte ich mich, wenn „was passiert“.
60 Minuten später saß ich im Auto und fuhr hin. 400 Kilometer. Meine Gedanken schlugen Purzelbäume in alle Richtungen. Aber der Gedanke, meinen Vater eventuell nicht mehr gesund sehen zu können, war wie ein Motor, der mich antrieb.
Eigentlich möchte ich jeden Tag so leben, als würden Banalitäten keine Rolle spielen. Als wäre die Liebe miteinander und zueinander so viel stärker, als jede persönliche Befindlichkeit. Denn persönliche Befindlichkeiten sind wertlos, wenn wir in Sorge sind um jemanden, den wir lieben. Sie erscheinen dann, in der Regel, völlig banal.
Worüber haben wir nochmal gestritten? Meist kennt man den Grund schon gar nicht mehr wirklich. Irgendwann geht es nur noch um Recht haben oder nicht und ganz nebenbei legt man so viel Wertvolles in Schutt und Asche.
Ich betrat die Wohnung meiner Eltern und zum ersten Mal spürte ich eine Veränderung. Eine Veränderung in mir; ich konnte sie fast greifen. Instinktiv wusste ich, ich bin hier nicht mehr richtig.
Das war kein lautes Gefühl… es kam auch nicht mit einem großen Knall, es war einfach nur, wie eine leise Konsequenz aus vielen, kleinen Puzzlestücken.
Als ich mir ein Kissen aus dem Schlafzimmer holte, war das wie ein Schlüsselmoment. Auf der einen Seite stand ein Foto des Hundes und auf der anderen Seite stand ein Foto meiner Schwester und ihrer Tochter. Ich kam einfach nicht vor. Mein Sohn kam nicht vor. Das war ein kurzer, tiefer Schmerz und gleichzeitig ein Moment voller Klarheit.
Dieser Besuch fühlte sich an, wie eine einzige Depression. Schwer. Dunkel. Und ich war nur damit beschäftigt jeder verbalen Gefahr auszuweichen. Ich verleugnete mich selbst, verharrte in belangloser Kommunikation und aufgesetzter Höflichkeit. Nichts davon war echt und nicht echt zu sein… ist maximal anstrengend. Als ich morgens aufwachte, weinte ich ins Sofakissen und ging erneut dazu über belanglos zu sein.
Ich besuchte meinen Vater im Krankenhaus, umarmte ihn, verabschiedete mich von allen und dann fuhr ich die 400 Kilometer wieder zurück. Ich konnte im Auto keinen Gedanken geradeaus denken. Ich konnte nicht in mich hineinfühlen. Ich wusste nur, dass sich etwas verändert hatte.
Der 18. Geburtstag meines Sohnes ging vorüber, Weihnachten ging vorüber, Silvester ging vorüber. Ich hörte nichts und ließ gleichzeitig nichts von mir hören. Dann kam mein Geburtstag… Mitte Januar und ich machte mir schon Tage vorher Gedanken, wie ich reagieren würde. Ich war mir nicht sicher, welches Szenario sich schlimmer anfühlen würde… Gratulation aus den falschen Gründen oder einfach stumm bleiben?
Es blieb stumm. Einfach so. Nicht meine Mutter, nicht mein Vater, nicht meine Schwester. Niemand rief an.
Ich kann bis heute das Gefühl dazu nicht beschreiben. Ich wünschte, wir hätten uns angeschrien oder irgendwas fieses gesagt. Ich wünschte, wir hätten ständig gestritten und ich könnte das problematische Verhältnis zu meinen Eltern an irgendwas festmachen… mich daran entlang hangeln. Ich wünschte, es gäbe keine belanglosen Gründe für diesen Zustand. Aber sie sind es… belanglos. Unwichtig. Und diese Belanglosigkeit lässt mich mit einer Million Fragezeichen zurück.
Ich habe mich aus vielerlei Gründen früh von Zuhause gelöst und ich habe später versucht, mich mitzuteilen, mich zu erklären. Jeder dieser Versuche wurde im Keim erstickt. Als wäre das, was ich empfunden habe, nicht existent und als gäbe es immer nur eine Wahrheit. Aber in einer Beziehung gibt es immer 2 Wahrheiten… die der einen und die der anderen Seite.
Als ich selber Mutter wurde, habe ich damit meinen Frieden gemacht. Ich stellte die Harmonie über mich selbst. Ich fand unwichtig, was ich fühlte, weil Eltern nun mal Fehler machen. Das nennt man Leben und an sich selber wachsen. Ich liebe meine Eltern, meine Schwester und gerade das macht es ja so schwer. Wie trennt man eine Verbindung, die einerseits so einzigartig und andererseits so toxisch sein kann?
Und wie löst man einen Konflikt, der nur unter der Oberfläche sprudelt? Gar nicht.
Mich begleitet dieses Thema schon mein Leben lang und ich kenne die Gründe, weil ich mich intensiv damit auseinandersetze. Aber nur, weil ich mich damit auseinandersetze, bedeutet das noch lange keine Veränderung miteinander, denn dazu müssten sich alle öffnen und sprechen. Es wäre ein schmerzhafter Konflikt und dazu muss man bereit sein. Man muss bereit sein, sich selber aushalten zu können.
Wenn ich mir etwas wünschen dürfte in der Beziehung zu meinen Eltern, dann wäre es Leichtigkeit und Akzeptanz. Ich wünsche mir gesehen zu werden, so wie ich bin und das ich dieser Mensch sein darf in Gegenwart meiner Familie… vor allem in Gegenwart meiner Familie.
Ich verdiene es geliebt zu werden. Bedingungslos. Ich verdiene einen Platz als Foto auf dem Nachttisch. Ich verdiene es nicht um die Liebe meiner Eltern kämpfen zu müssen. Ich möchte in der Nähe der Menschen, die mir alles bedeuten, ich selbst sein dürfen. Ich möchte Fehler machen dürfen ohne Angst vor Verlust.
Bin ich wütend oder verärgert? Nein. Nichts davon. Es ist viel schlimmer. Es ist ein luftleerer Raum, einer voller Zweifel. Man ist gezwungen eine Art Waage aufzustellen, um weitermachen zu können. Wer bin ich ohne meine Familie und warum bin ich eigentlich ohne Familie? Ich stelle mein eigenes Dasein in Frage… diese Zweifel liegen auf der einen Seite der Waage und auf der anderen Seite liegt folgendes:
Der 18. Geburtstag, gemeinsam mit seinem Vater. Ein lustiges Weihnachtsfest in alter Familientradition in Leipzig, inklusive meiner Schwiegereltern und das trotz aller emotionalen Katastrophen der letzten Jahre und das waren ganz sicher keine Banalitäten. Mein Geburtstag mit Freunden und kleinen, wunderbaren Überraschungen, die meine Traurigkeit beiseite schieben konnten.
Ein erfüllter Kreis, voll mit Menschen, die mir alles bedeuten… Hier gibt es Freude, Tiefsinnigkeit, Kritik und auch mal Konflikte. Ich darf ich sein und werde trotzdem gemocht.
Für mich fühlt sich das manchmal völlig verrückt an, denn wenn deine Eltern dich ablehnen, musst du auch das erstmal wieder lernen… das es ok ist gemocht zu werden. Das du selbst ein Mensch bist, der geliebt werden darf. Denn, wenn dir das von der Basis versagt bleibt, stellt das alles in Frage, was dich selber ausmacht. Es sorgt für Verunsicherung und einen luftleeren Raum ohne Halt.
Vermutlich hätte ich nie ein Wort darüber verloren, hätte meine Kollegin Conny heute nicht einen Blogpost zu genau diesem Thema veröffentlicht. Das war fast ein bisschen schräg, wenn man selber in der Situation steckt und dann schreibt jemand, den du kennst, öffentlich über dieses Tabu. Und es ist eins… eine Taubthema.
Wenn es mit den Eltern nicht klappt, sucht man als Kind die Schuld… vor allem… bei sich selbst und das bis ins hohe Erwachsenenalter und oft sogar darüber hinaus. Es ist schwer aus dieser Spirale auszubrechen, denn es ist ein Makel. Familie ist schön, Familie funktioniert, Familie ist bedingungslose Liebe, Familie ist für immer… so stellen wir uns das vor.
Eure unzähligen Nachrichten, heute auf Instagram, zeichnen ein anderes Bild. Ich bin nicht allein damit. Manchmal reicht schon allein dieses Wissen. Auch andere suchen Halt in luftleeren Räumen und deswegen teile ich diese Geschichte mit euch.
Vermutlich wird die hoffnungsvolle Frohnatur in mir nie aufgeben. Ich glaube, die Liebe steht über jeder Banalität und manchmal braucht es Grenzen, um wieder fühlen zu können. Und selbst, wenn diese Mauern nicht eingerissen werden, ist man zumindest in die Auseinandersetzung mit sich selbst gegangen.
Nur so betritt man den Pfad der Veränderung… ohne begleitende Verbitterung.
Eure Andrea


10 Kommentare
Petra
Danke, auch an den Beitrag von Conny, der meine Lage noch deutlicher beschreibt.
Ich habe Jahre daran gezweifelt ob ich normal bin, was mit mir nicht stimmt, was ich falsch mache.
Ich mache nichts falsch !!!!
3 Jahre Therapie haben mir aufgezeigt ich bin vollkommen ok so wie ich bin. Man kann sich seine Familie nicht aussuchen.
Alle liebe und Danke für eueren Beitrag.
Ich dachte ich jahrelang ich wäre allein auf dieser Welt.
Lg
Petra
Ines
Danke für deine Worte, danke für deine Ehrlichkeit! Ich finde mich selbst und es fühlt sich sich einfach nur gut an, ich bin nicht allein mit meinen Gefühlen und Problemen, ich bin nicht abartig… Ich habe meinen Weg gefunden, damit umzugehen. Aber das Wissen, andere haben ähnliche Probleme, das fühlt sich unglaublich gut an!!!
Kerstin
Liebe Andrea, danke für so offene und ehrliche Worte. Du hast meinen tiefsten Respekt, auch wenn ich nicht „betroffen“ bin, jedenfalls nicht im Familienkreis. Ich folge dir schon so lange und finde deine Entwicklung enorm und immer wieder großartig, wie du das alles meisterst. Chapeau.
Sabine
… genau deshalb gibt’s die liebsten Freunde, sie sind die Entschuldigung des Universums für die Familie
Katja
Liebe Andrea,
das hört sich einerseits sehr traurig an-andererseits aber auch sehr klar.
Du hast jederzeit das Recht deinen Weg zu gehen, wenn du dich nicht gesehen fühlst.
Trotzdem wünsche ich dir noch mal eine Kommunikation mit deinen Eltern um Ihnen mitzuteilen was dich so sehr verletzt hat. Es ist ein schwieriges Thema, schön dass du darüber schreibst. Liebe Grüße Katja
Silke
liebe Andrea,
es tut mir echt leid für euch.
Leider kann man sich Familie nicht aussuchen.
Bei meinem Mann stellt sich die Eltern / Kind Situation ähnlich da. Aber da war über 20 Jahre kein Kontakt, jetzt muss er sich um die Versorgung kümmern, nach all der Ablehnung.
Ich werde nie verstehen warum Mütter ihre Kinder ablehnen oder ignorieren.
Streit und Zoff, alles völlig normal, aber ich schwöre dir, das Band zu meinen Kindern würde ich niemals reißen lassen.
Niemals…..
Ziehe für dich eine Grenze…..
Es macht krank, tut weh und raubt Energie…..
Danke für diesen Beitrag und sei dir sicher
Es geschieht so oft….
Wie traurig ist das bitte…
Dicken Kuss Silke
Silvia
Liebe Andrea, du sprichst mir so aus der Seele! Habe viele Jahre unter dem Gefühl gelitten, von den Eltern nicht unterstützt zu werden, nicht wahrgenommen, nicht geliebt, nicht wert geschätzt …. Ach ich könnte es um so vieles erweitern. Mittlerweile sind beide verstorben und dieses Gefühl, nicht zu genügen ist geblieben. ABER!!! Ich habe mir immer genau vor Augen gehalten was ich bei meinen Kindern anders machen möchte. Der Große wird 21 und doch hört er täglich ein „ hab dich lieb“ oder „bin stolz auf dich“ oder „du bist toll so wie du bist“. Neulich sagte er dann so beiläufig „Mama, es gibt nichts an deiner Erziehung, was ich ändern würde, hätte ich selbst Kinder“. Das war das allergrößte Lob für mich….. aber es hat mir auch gezeigt, daß auch ich genau so richtig bin! Vielen Dank liebe Andrea, für diesen tollen Blog Beitrag! Du bist gut so wie du bist!!!!
Bolobabs
..liebe Andrea
grosses Thema und starke Worte von Dir. Es hat mich sehr berührt und ich habe mich gespiegelt gefunden.
Es tut gut zu wissen mit diesem Thema nicht allein zu sein. Leider belasten mich böse Erlebnisse als Kind bis ins
Alter,Therapien sind oft nur wie Verbandswechsel…
Danke für Deinen Artikel
Melanie Koch
Liebe Andrea,
nachdem ich deinen wundervoll geschriebenen Artikel gelesen habe, kullern mir die Tränen über das Gesicht. Du hast ganz kurz eine Tür geöffnet, welche fast immer verschlossen bleibt, um den Schmerz nicht zu spüren. Deine Geschichte ähnelt sehr der Geschichte meines Mannes und ich habe meinen eigenen Vater seit 18 Jahren nicht mehr gesehen, er wollte es so, nachdem er meine Mutter und mich Jahre zuvor für eine andere Frau verlassen hatte. Ich habe jetzt meine eigene Familie und mein Sohn (17 Jahre) hat ihn nie kennengelernt, ich werde niemals verstehen können, wie Eltern ihre Kinder nicht annehmen können, weil Sie nicht in ihr Wunschbild passen. Ich liebe meinen Sohn abgöttisch und es würde mir mein Herz in Stücke reißen, wenn ich ihn ablehnen würde, einfach unvorstellbar für mein Mutterherz. Ich fühle so sehr mit Dir und umarme Dich ganz feste, Du hast es toll beschrieben und weisst Du, dass genau diese Situation Dich zu diesem starken, emphatischen und verwundbaren Menschen gemacht hat. Dein Sohn wird megastolz auf Dich sein und Du kannst es auch sein, alles Liebe für Euch, Melanie ❤️
Britt
Liebe Andrea,
das Thema hast du ganz toll in Worte gefasst. Mir geht es mit meinen Eltern Gottseidank nicht so aber mit meinem Bruder und seiner Frau. Wenn man immer wieder vor den Kopf gestoßen wird nach gefühlten tausend Versuchen ins Reine zu kommen ist voll schlimm. Leider muß man wirklich manchmal sagen sorry es hat keinen Sinn, obwohl aufgeben werde ich wohl nie und das solltest du auch nicht!!! Ganz liebe Grüße nach Leipzig von Britt